Momentan ärgert mich die Multiple Sklerose wieder einmal richtig, und es nervt. Aber das Wichtige ist, dass ich versuche aktiv zu bleiben. Das ist doch das Entscheidende: nicht in der Ecke sitzen und in Selbstmitleid versinken, sich nicht isolieren und die Kontakte vernachlässigen. Stattdessen sollte man weiterhin versuchen die Kontakte pflegen und den Humor behalten.
Ich war immer ein Mensch mit einem (ja, sehr flachen) schwarzen Humor, gespickt mit (Selbst-)Ironie. Diesen habe ich bis heute nicht verloren. Zugegeben, etwas Zynismus ist noch dazugekommen. Besonders, wenn ich beim Discounter übersehen werde oder der Stadt, die behauptet, besonders behindertengerecht zu sein (oder es zumindest versucht), E-Mails schreibe, um über für Rollstuhlfahrer unzugängliche Querungen zu berichten.
Als Beispiel: Eine kleine Geschichte
Ich wohne zwischen zwei Discountern: dem einen, der “All die Jahre wieder tolle Angebote bietet”, und dem anderen, der “besser ist als all die anderen”. Links ist Discounter 1, rechts Discounter 2, beide etwa 500 Meter Luftlinie von meiner Wohnung entfernt. Um zu Discounter 2 zu gelangen, muss ich jedoch erst an Discounter 1 vorbei und dann eine etwa 1 km lange Straße entlangfahren. In der Mitte dieser Strecke gibt es eine Querung, bei der die Bordsteine 10 cm hoch sind. Daher muss ich in eine Seitenstraße einbiegen, wo sich nach 50 Metern eine Einfahrt befindet, über die ich mit dem Rollstuhl die Straßenseite wechseln kann. Danach muss ich wieder 50 Meter zurückfahren, um dann auf der anderen Seite der 1 km langen Straße weiterzufahren, bis ich schließlich bei Discounter 2 ankomme.
Wenn alle Querungen in Ordnung wären, könnte ich direkt nach rechts zu Discounter 2 fahren und hätte nur einen Weg von 500 Metern. Das würde mir nicht nur mindestens 35 Minuten Zeit ersparen, sondern ich wäre nach dem Umweg auch nicht völlig erschöpft und auf einen Fahrer angewiesen. Doch was macht die Stadtplanung? Sie ignoriert meine Mails.
Bei solchen Beschwerdemails ist es trotz Zynismus, Ironie und Humor wichtig, nicht beleidigend zu werden. Ich zitiere mal den Captain der Pinguine aus “Madagaskar”: “Immer nett lächeln und winken.”
Und das ist nicht nur ein Problem für jemanden mit Multipler Sklerose, sondern ein allgemeines Problem. Hier in der Nähe meiner Wohnung kennen mich viele, da ich mit meinem Rollstuhl und Zuggerät (ePilot der Firma Alber) auffalle. Viele sprechen mich interessiert an, möchten Informationen und ich tausche mich auch über Unzugänglichkeiten in der Stadt mit anderen Betroffenen aus. Dank des Zuggeräts schauen mir die Damen wieder hinterher und sprechen mich an, wie ich damit zurechtkomme.
Ein Bekannter von mir musste letzte Woche die Feuerwehr rufen, die ihn dann wieder in den Rollstuhl gehoben hat (er hat keine Beine mehr). Andere ältere Damen, die mit dem Rollator unterwegs sind, haben wie ich Schwierigkeiten mit den Querungen. Es kann doch eigentlich nicht sein, dass dieses Problem den Städten egal ist. Der Fall mit der Feuerwehr ist bestimmt ein Extremfall, aber ich denke, das ist nicht “normal”. Die Feuerwehr ist für andere Einsätze wichtiger.
Folgendes schreibt die Stadt Duisburg (externer Link) auf der Internetpräsenz:
Barrierefreies Planen und Bauen soll Menschen mit Behinderungen die Auffindbarkeit und Nutzung baulicher Anlagen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und ohne fremde Hilfe, ermöglichen s. § 4 Behindertengleichstellungsgesetz Nordrhein-Westfalen (BGG NRW).
§ 49 der Landesbauordnung (BauO NRW 2018)
Im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens prüft die Koordinierungs-stelle die Barrierefreiheit bei öffentlich zugänglichen Bauvorhaben und teilweise bei Gebäuden mit Wohnungen im Sinne des § 49 BauO NRW 2018.
Barrierefrei-Konzept
Seit dem 01. Januar 2020 ist ein Barrierefrei-Konzept nach § 9a Verordnung über Baufachliche Prüfungen (BauPrüfVO NRW) den Bauvorlagen beizufügen. Dies betrifft neu zu errichtende, öffentlich zugängliche Gebäude gemäß § 49 Abs. 2 BauO NRW 2018, die große Sonderbauten nach § 50 Abs. 2 BauO NRW 2018 sind. Die Angaben zur Barrierefreiheit sind in einem schriftlichen Erläuterungsbericht zu formulieren und durch zeichnerische Darstellungen zu ergänzen.
Es ist wirklich frustrierend, dass die Bauplanung nicht auf Mails reagiert, besonders da die Stadt durchaus Möglichkeiten hätte, das Leben der eingeschränkten Bürger zu verbessern.
ÖPNV und Medizinische Versorgung

Seit drei Jahren bekomme ich sogenannte „Akutcodes“, um schnell Termine bei einem Spezialisten zu erhalten. Der erste Spezialist war 2023 in einer Entfernung von 30 km Luftlinie. Da ich selbst kein Auto mehr fahren kann, reagierte die Mitarbeiterin der 116117 unfreundlich, als ich erklärte, dass ich dort nicht hinkomme, da die Fahrplanauskunft der DVG (ÖPNV in Duisburg) keine passende Verbindung anzeigt.

Nach mehreren Anrufen bei der 116117 erhielt ich schließlich einen nähergelegenen Termin (10 km Luftlinie), allerdings liegt der Rhein dazwischen. Das Problem ist, dass die nächste Brücke über den Rhein etwa 10 km entfernt ist, und ich diese Strecke auf der anderen Seite wieder zurückfahren müsste. Wenn ich mich genau zwischen meinem Wohnort und dem „Spezialisten/Spezialistin“ befinde, kämen noch einmal 8 km dazu. Mit dem Rollstuhl wären das insgesamt 28 km, was bei einer Geschwindigkeit von 6 km/h pro Weg etwa 4,6 Stunden Fahrzeit bedeutet. Für den Termin müsste ich also insgesamt rund 9,3 Stunden einplanen, plus Wartezeit und Behandlungszeit. Auch die Mitarbeiterin der 116117 konnte nicht nachvollziehen, dass ich als MS-Betroffener mit einer Aufmerksamkeitsspanne von 30 Minuten diesen Termin um 9:30 Uhr nicht wahrnehmen kann. Mit dem Bus wären es nur 1 Stunde und 50 Minuten, plus 15 Minuten Fußweg zur Praxis. Für den Tag müsste ich also etwa 3 Stunden Fahrzeit, plus Wartezeit und Behandlungszeit einplanen – vorausgesetzt, der Busfahrer nimmt mich mit. In einer anderen Stadt musste ich einmal 4,5 Stunden warten, bis mich ein Busfahrer mitgenommen hat.
Naja, wie man sieht, ist nicht alles Gold, was glänzt, aber mit diesen Unzulänglichkeiten lebt ein körperlich eingeschränkter Mensch. Ich selbst versuche auch an solchen Tagen immer höflich zu bleiben und mich darum zu bemühen, „keine Belastung für andere Menschen zu sein“ (oh, mein Zynismus).
Auch wenn ich ein positiver Mensch bin und offen mit meiner Erkrankung umgehe, viel Humor und Optimismus zeige, gibt es dennoch Tage voller Frust, Unverständnis und manchmal auch Wut über das angeblich barrierefreie Bauen, die Verkehrsanbindung, den ÖPNV und die Gesundheitsstruktur.
Gleichzeitig hat die eingeschränkte Person noch mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen, wie ich mit der Multiplen Sklerose und all den damit verbundenen Herausforderungen, Nebenwirkungen der Medikamente und so weiter.
Aufgrund meiner persönlichen Einstellung beruhige ich mich relativ schnell über die Unzulänglichkeiten in meiner Umgebung, aber es gibt viele, denen das schnell zu viel wird und die sich eventuell hineinsteigern, was leider oft zur Verschlechterung der eigenen Krankheit und dadurch zu einer schlechteren Lebensqualität führt.
Aber ich denke, ich mache langsam Schluss mit diesem Jammerpost, schreibe schon seit Februar 2025 daran, und jetzt haben wir schon Ende Oktober 2025.

Wow, dieser Beitrag hat mich wirklich berührt. ❤️
So ehrlich, klar und trotzdem mit einer Portion Humor – genau so braucht es Stimmen wie deine, Stephan. Du sprichst das aus, was viele fühlen, aber oft nicht sagen: Dass Barrieren nicht nur aus Beton bestehen, sondern auch aus Gedanken, Gleichgültigkeit und fehlender Empathie.
Deine Worte machen sichtbar, was viele täglich erleben – den ständigen Kampf um Selbstverständliches. Und gleichzeitig spüre ich in deinem Text diese unglaubliche Stärke, diesen Willen, das Leben trotzdem zu leben, zu lachen, zu gestalten.
Ich wünsche mir, dass mehr Menschen deine Perspektive lesen – nicht aus Mitleid, sondern um zu verstehen.
Denn Barrierefreiheit beginnt nicht bei der Rampe, sondern im Kopf. 🧠💪
Danke für deinen Mut und deine Ehrlichkeit. 🙏
Werner Zimmer
Mitglied des Vorstandes der FGQ e.V.
Danke Werner,
ich denke das nur was geändert werden kann wenn auf Probleme Hingewiesen wird.
Danke für deinen Kommentar
Grüße
Stephan Gernardt